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Emotion & Rationalität: Plädoyer für die ernsthafte Überwindung einer folgenschweren Begriffsverwirrung

PDF In der medialen Öffentlichkeit gelten Emotionen per se als irrational. Emotionen verstören das rationale Denken demnach. Das Denken muss davon befreit werden. In esoterischen Kreisen hingegen soll man allein seinen Gefühlen folgen, um zur „Wahrheit“ zu gelangen. Das ist noch schlimmer! Doch Emotionen aus Entscheidungsprozessen (vermeintlich) ausschließen zu wollen, führt zu systematischen Fehlkonstruktionen, die in der Praxis regelmäßig verheerende Folgen haben. Rational ist gerade nicht das auf logische Symbole reduzierte Berechnen, wie es von Rechenmaschinen oder einer KI ausgeführt wird. Rationalität außerhalb von Welt, Werten und Emotionen gibt es nicht. Rationalität wird von angemessenen Emotionen nicht verunreinigt, sondern durch diese erst ermöglicht. Deshalb gilt es Emotionen nicht kategorisch zu verbannen, sondern analog zu Denkkonstrukten, Aussagen, Urteilen, Phänomenen etc. in ihrer Angemessenheit als Erkenntnis zu beurteilen. Bei dieser Kritik geht es nicht um eine akademisch-analytische Spielerei mit Begriffen, sondern um die Qualität von Entscheidungsprozessen und deren „knallharte“ Konsequenzen in der Praxis.

Kritik eines reduktionistischen Rationalitätsbegriffs

In der medialen Berichterstattung gelten Emotionen per se als irrational, als etwas, das das rationale Denken verstört, als das Leidenschaftliche, das Triebhafte, das Sündige – als des Teufels! Seit einigen Jahren gelten Emotionen sogar als Inbegriff des Postfaktischen, als Fake statt Fakten. Wie ein Mantra ist in unzähligen politischen und medialen Beiträgen zu vernehmen, dass Emotionen Fakten ersetzen würden und damit das Rationale des Denkens durch das Irrationale des Fühlens. Eine seltsame kategoriale Verschiebung, nach der Emotionen selbst etwas wie (falsche) Fakten seien. Die allseits propagierte Gegentherapie besteht in einem „reinen“ Denken aus Objektivität, Strenge, Nüchternheit, harter Analyse, logischem Schlussfolgern ohne Meinungen, Weltanschauungen, Werturteilen, Emotionen, Leidenschaften, Empathie oder Gefühlsduselei.[1]

Angela Merkel gilt als Sinnbild eines solch rationalen Politikers: Physikerin, emotionslos, nüchtern, sachorientiert, technokratisch, ideologiefrei, strategie- und visionslos. Auch Wladimir Putin gilt analog als rational, sogar sein Angriffskrieg auf die Ukraine und seine Drohung mit dem Einsatz atomarer Sprengkörper gegen die NATO-Staaten sei „rationales Agieren“ (von Lucke 2022). Beide Beispiele wirken auf uns contra-intuitiv. Beide Politiker sind zwar lange erfolgreich in ihrem politischen Machterhalt geblieben, doch bei Merkel bleibt unklar welche (rationalen) Ziele sie neben ihrer Politik des ständigen „Muddling Through“ verfolgt hat und warum sie wesentliche politische Probleme immer weiter verschleppt hat, statt sie ernsthaft anzugehen. Auch Putins (rationale) Strategie für Russland bleibt uns unzugänglich. Doch vor allem sein Angriffskrieg auf die Ukraine ist offensichtlich alles andere als rational, sondern ein Paradebeispiel absoluter Irrationalität – reiner Irrsinn. Wie kommen diese Rationalitätszuschreibungen zustande?

Rationalität scheint regelmäßig auf etwas reduziert zu werden, das sich als binär-logisches Konstrukt verstehen lässt, bei dem Ziele mit zweckgerichtetem Handeln in Verbindung gebracht werden. Rational ist etwas dann, wenn diese Handlungen zum Erreichen der Ziele führen, unabhängig davon, um was für Ziele es sich handelt, mit welcher Art von Mitteln diese erreicht werden und welche Nebenwirkungen das für andere hat.

Wir sehen zwei mögliche Erklärungsansätze für dieses Rationalitätsverständnis. Im ersten Fall wird Rationalität mit Zweckrationalität verwechselt. Dies könnte an der Namensähnlichkeit liegen, obwohl es sich dabei um im Kern unterschiedliche Begriffe handelt, auch kategorial. Im zweiten Fall könnte dies in einem verengten Blick des vorherrschenden analytisch-szientistischen Paradigmas begründet sein. Der Begriff des Rationalen verlangt dann eine „Reinheit“ (des Denkens), die statt in dem üblichen Bild eines weltfernen Elfenbeinturms besser noch als klinische Sterilität eines Labors vorgestellt wird. Die Verunreinigungen, die es zu tilgen gilt, liegen im Subjekt: dessen Wahrnehmungen, Meinungen, Werturteile, Weltanschauungen und vor allem anderen, dessen Emotionen. Das Denken wird befreit und bekommt einen klaren, nüchternen, kühlen, sachlichen, fokussierten Blick auf „die Sachen selbst“, das Objektive, die reinen Fakten etc. Das Ergebnis ist eine reine Sprache des Denkens (verortet im Gehirn), die auf binär-logischen Symbolen basiert, die ähnlich einem Computer[2] exakte Ergebnisse berechnet. Diese gereinigte, reduzierte, nackte Sprache erlaubt einen privilegierten Zugang – so das Versprechen –, um das Objektive, das Reale in besonderer Weise erfassen zu können, sodass die Ergebnisse dieses rationalen „Denkens“ als „realistisch“ gelten, als „Realpolitik“. Rationalität als Ergebnis einer kühl kalkulierenden Denkmethode.

Damit allerdings wird der Rationalitätsbegriff (und die Reflexionsfähigkeit des Menschen) soweit entkernt, dass er seinen Sinn verliert. Die Reflexion der Ziele bzw. Voraussetzungen wird einfach ausgeklammert, d.h. außerhalb der Grenzen des Diskurses behauptet, also externalisiert. Doch genau dies sind die zentralen Fragen von Politik und Entscheidung. Man kann diesen Fragen nicht ausweichen. Sie werden zwangsläufig beantwortet, und zwar entweder reflektiert und begründet oder willkürlich (dezisionistisch). Es gibt hier folglich eine unausweichliche Aufgabe und genau das macht den Begriff der Rationalität im Kern aus. Wer danach fragt, ob eine Handlung rational ist, stellt die Frage, ob sich die Ziele rechtfertigen lassen, ob die Voraussetzungen dieses Denkens begründet werden können. Der Begriff der Rationalität ist damit immer auch normativ, „weil in seiner Verwendung immer eine zumindest implizite Be- oder Verurteilung der entsprechenden Handlung, Meinung usw. enthalten ist“ (Gosepath 2010, 2206).

Doch wer die Reinheit der klinischen Sterilität des Labors verlässt, handelt sich enorme Probleme ein. Nicht umsonst gab es nach dem „Werturteils‑“ und „Positivismusstreit“ sowie nach den Schrecken der beiden Weltkriege und den Abgründen, die von Ideologien hervorgerufen wurden, eine Hinwendung zum analytischen Paradigma mit dem unbedingten Willen zur Überwindung metaphysischer Spekulationen und ideologischer Dogmen. Doch die Flucht vor den Problemen schafft keine Lösungen. Der Weg, um Urteile darüber fällen zu können, was als rational bezeichnet werden kann, muss deshalb auch dann bestritten werden, wenn er alles andere als klinisch steril ist, sondern voller Unwägbarkeiten, Schmutz, Welt und Subjekt. Doch wie gelangt man aus diesem Dilemma heraus? Ein Weg besteht darin, sich auf das Phänomen Rationalität verstehend einlassen zu wollen. Sehr wohl im Bewusstsein dessen, dass dies einerseits ein Einlassen auf die „Verunreinigungen“ des Subjekts bedeutet, doch andererseits die besonderen Fähigkeiten von Menschen etwas verstehen zu können zur Geltung bringt. Dabei werden wir zeigen, dass Rationalität ohne Werturteile und Emotionen unverständlich bleibt, d.h. Emotionen gerade kein Gegensatz von Rationalität sind, sondern eine notwendige Bedingung für Rationalität darstellen.[3]

Das Phänomen Rationalität verstehen

Methode, Labor und Welt

Die analytisch-szientistische Methode folgt der Grundidee, durch das Zerlegen von „Bausteinen“ in immer kleinere Detaillierungsgrade und durch formale Rigorosität mit quantifizierbaren Messergebnissen in logischen Sprachausdrücken zu objektiven Substanzen der Außenwelt vorzudringen, der absoluten Realität, dem Ding an sich. Eine metaphysische Ausrichtung, die doch gerade überwunden werden sollte. Selbst wenn das Ding an sich durch die empirische Welt ersetzt wird, herrscht i.d.R. trotzdem die Überzeugung vor, dass dies nur ein anderer Name sei und man einer unmittelbaren Korrespondenztheorie der Wahrheit folgen könne. Da stört das eigenartige, „schmutzige“, unzuverlässige Erkenntnissubjekt. Das Phänomen der Rationalität kann auf diese Weise nicht verstanden werden.

Erkenntnisreicher ist es, diesem metaphysischen Impetus nicht zu folgen und die Illusion des „view from nowhere“ (Nagel 1986) durch das zu ersetzen, was menschliche Erkenntnisfähigkeit ausmacht. In Reflexionen werden ausgehend von (Vor‑)Urteilen (Gadamer [1960] 2010, 281ff.) auf der Basis von persönlichem und kulturellem „Weltwissen“ Unterscheidungen („Brillen“, Perspektiven, Sichtweisen, Kategorien, Muster) auf Wahrnehmungen (das Empirische, also das in den Sinnen gegebene) angewendet, um zu weiteren (Vor‑)Urteilen zu gelangen. Statt sich der absoluten Wahrheit nähern zu wollen, werden im hermeneutischen Zirkel (ebd.) immer neue Perspektiven eingenommen, um jeweils etwas (anderes) verstehen zu können. Damit kann sich ein komplexes Bild formen, das dynamisch bleibt, unabschließbar, uneinheitlich, sogar widersprüchlich, um sich auf das Verstehen eines Phänomens in der „Welt“ einzulassen. Statt das Subjekt als Problem auf dem Weg zur Erkenntnis anzusehen, gehen wir davon aus, dass dessen geistige und körperliche Fähigkeiten überhaupt erst einen Zugang zum Verstehen möglich machen und diese Fähigkeiten enormes Potenzial entfalten können, wenn sie entsprechend ausgebildet und eingesetzt werden. Gerade der Reflexions- und Interpretationsprozess kann weit mehr leisten als ein Messapparat, eine Rechenmaschine oder ein KI-System mit seiner bloßen Mustererkennung.

Diese Fähigkeiten bestehen u.a. darin, die Unterscheidungen immer wieder zu verschieben (Pluralisierung der Differenzierung), neue „Brillen“ zu probieren, besondere Erfahrungen zu nutzen und zu verändern, neue, unvorhergesehene Zusammenhänge herzustellen (die auch nicht vollständig und unmittelbar kommensurabel sein müssen), Werte einzubringen, sich einzufühlen, unverrückbare, sakrosankte Dogmen in Frage zu stellen und ggf. als arbiträre/kontingente Konstrukte zu ent-täuschen oder nach stillschweigend angenommenen verborgenen Voraussetzungen zu fragen. Dies erfordert eine Reflexions-Offenheit in jeder Richtung und den Schutz vor dem Prokrustesbett reduktionistischer Methoden, auch in den sprachlichen Symbolen. Sprachlich schwer oder überhaupt nicht zu erfassendes Expertenwissen, tacit knowing (Polanyi [1966] 2009) und Intuitionen einzubeziehen (verstanden als auf Erfahrungen und Reflexionen „trainierte“ Denkmethode in komplexen Gestalten) bildet dabei eine essenzielle Quelle. Dabei geht es im Kern darum, komplexe bedeutsame Gestalten zu verstehen, die ohne diese Reflexionsfähigkeit von Subjekten und insbesondere deren affektiven Weltbezug unmöglich wären. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass das Ziel beliebige kreative Narrative sind, wie manche mediale Kakophonie, psychoanalytische Spekulation oder postmoderne Radikalisierung zeigen, wenn aus einem fruchtbaren Ansatz freies Assoziieren unter Zurückweisung jedweden Geltungsanspruchs wird. Verstehen bedeutet gerade unterscheiden zu können, auch dann, wenn kein einfaches Justifikationskriterium den „Wahrheitsgehalt“ messen lässt.

Um uns auf den Verstehensprozess des Phänomens der Rationalität einzulassen beginnen wir unseren Weg folglich vor dem Hintergrund, dass sich Menschen nicht in der Reinheit eines klinisch sterilen Labors befinden, sondern unweigerlich situiert sind in eine komplexe Umwelt. Diese Umwelt in der Menschen agieren besteht aus einem verwobenen Netz von allem, was Leben ermöglicht und ausmacht – Konventionen, Normen, Gesetze, Institutionen, soziale Praxen, Moden, Narrative, usw. Unweigerlich „geworfen“ (Heidegger [1927] 2001, 135) findet sich das Subjekt in einem Kontext, der genau von diesen Phänomenen in seinem Sein bestimmt wird, zu dem sie sich – ob sie wollen oder nicht – verhalten und verhalten müssen. Erst das eröffnet einen Zugang zum Phänomen der Rationalität bzw. zeigt, dass es Rationalität nur außerhalb des Labors und damit in der „Welt“ gibt.

Keine Welt ohne Affektivität

Nicht nur ist die Ausgangssituation eine konkrete Umwelt, auch wird diese vom Subjekt nicht „neutral“ erlebt. Es handelt sich vielmehr um für sie bedeutsame Kontexte, die sich entsprechend anfühlen. Das gilt bereits für ganz basale Formen der Wahrnehmung, die, wie bereits die Gestalttheorie gezeigt hat, immer schon sinnhaft ist. Das heißt, Menschen nehmen weder nur undefiniertes Rauschen wahr noch losgelöste einzelne Daten und Informationen – etwas macht vor dem Hintergrund der Erfahrungen und in dem jeweiligen Kontext auf ganz spezifische Weise Sinn, es erscheint als bedeutsame Gestalt. Unsere konkrete Umwelt ist daher nie „nackt“ und neutral, sie begegnet uns nicht in Form einer amorphen, indifferenten Masse, sondern als multidimensionales Feld aus Aufforderungen, Hindernissen, Begehrlichkeiten, Möglichkeiten etc. Den dezidiert affektiven Aspekt dieses grundlegend normativen Weltbezugs macht der Begriff der Befindlichkeit deutlich (Heidegger [1927] 2001, § 29). „Befindlichkeit“ ist die nominalisierte Form von „sich befinden“ und verweist damit sowohl auf das Befinden – „Wie ist ihr Befinden?“, „Vielen Dank, ich befinde mich bestens“ –, als auch auf eine konkret raum-zeitliche Situierung: Ich befinde mich in der Bibliothek. Auf beide Weisen befinden sich Menschen unweigerlich: wir können uns weder nirgendwo (raum-zeitlich) noch nirgendwie (affektiv) befinden. Affektivität ist damit maßgeblich für eine grundlegende Weise des Erschließens der lebensweltlichen Situation, die vor jedem konkret gerichteten Weltbezug liegt. So verstanden handelt es sich bei Affektivität nicht um ein Phänomen, das auch vorhanden sein kann, sondern vielmehr um eine unweigerlich präsente affektive Grundstrukturierung menschlicher Existenz, die spezifische konkrete Weltbezüge ermöglicht, erschwert oder verwehrt.

Diese Einsicht lässt sich auch umgekehrt anhand eines einfachen Gedankenexperiments einsehen. Wie sähe eine Wirklichkeit ohne jegliche Affektivität aus? Damit ist mehr gemeint als die empirischen Versuche von u.a. Damasio ([1994] 2004), die bei bestimmten Gehirnläsionen eine emotionale Retardierung annehmen. Gemeint ist die Idee, es gäbe einen Spock, der anders als in der Umsetzung der Serie, tatsächlich ohne jede Gefühlsregung wäre und dessen Denken allein in logischen Operationen vor sich ginge, wie bei einer Rechenmaschine. Bei dieser Vorstellung wird deutlich, dass es keine Bedeutsamkeit mehr geben könnte, weil diese Gefühle notwendigerweise voraussetzt (vgl. James ([1902] 2004, 137–138). Das bezieht sich einerseits auf für Menschen existenziell bedeutsame affektive Phänomene wie Liebe oder Angst, Begierde und Sehnsucht etc., ohne die menschliches Sein sinnlos erscheint und andererseits auf eine totale Leere, die ohne jedes Gefühl entstünde. Jede Frage nach Sinn und Bedeutung wäre selbst sinnlos und sogar jedes basale Warum/Wozu könnte nicht mehr beantwortet werden. Denn Emotionen sorgen dafür, „dass irgendetwas uns angeht und nahegeht. Denken wir sie weg, so wäre alles in gleichmäßige, neutrale Objektivität getaucht. Sogar der Einzelne für sich selbst wäre dann nur ein Objekt unter Objekten“ (Schmitz 1989, 107; zitiert nach Slaby 2008, 106). Eine Rechenmaschine wie Spock könnte mechanisch oder elektronisch zu etwas angestoßen werden, doch aus sich selbst heraus gäbe es keinerlei Antrieb dazu. Dementsprechend ließen sich in einer solchen Wirklichkeit auch keine rationalen Ziele ableiten. Das bedeutet, dass umgekehrt jede Form von Rationalität immer schon in vielfältigerweise affektiv sein muss.

Ab-Trennung von Welt und Wirklichkeit

Eine mögliche Reaktion auf diese Feststellungen könnte sein, die sozio-kulturell gestaltete Umwelt sowie den notwendigerweise affektiven Bezug des Subjekts zwar anzuerkennen, diese aus seinen Überlegungen aber theoretisch abtrennen und auf logische Symbole reduzieren zu wollen. Ein solches Vorgehen erliegt der Illusion, damit noch etwas sinnvolles über das Phänomen verstehen zu können. Man macht sich lediglich blind für etwas, das man nicht sehen will, dessen Existenz davon aber unberührt bleibt. Die Schlussfolgerungen eines solchen Vorgehens sind allerdings äußerst problematisch, weil sie einen systematischen Fehler begehen, dessen Ergebnis nicht selten höchst irrational ist. Phänomene lassen sich nicht steril verstehen, d.h. sie können nicht herausgelöst werden aus dem komplexen Gefüge der Wirklichkeit, ohne sie derart zu entfremden, dass eben nicht mehr erfasst werden kann, worum es geht.

Sprache, die Welt ausdrückt, nicht ausschließt

Der Ausgangspunkt für das Verstehen des Rationalitätsbegriffs liegt damit in der konkreten leiblichen und affektiven Verankerung von Menschen in einer sozio-kulturell bedeutsamen Wirklichkeit. Um die Phänomene dieser Wirklichkeit – etwa Bildung, Geburtsprozesse, gesunde Ernährung, die Klimakrise oder Krieg – verstehen zu können (und damit: die Rationalität die daraus folgt) brauchen Menschen eine Sprache bzw. Symbole, die diesen Phänomenen angemessen sind. Dazu gehören wesentlich auch Symbole die Sinnstiftung erlauben, Gefühle, Wert(urteil)e und bedeutsame Gestalten. Die logischen Operatoren des analytisch-szientistischen Paradigmas schließen diese systematisch aus, wodurch ein einseitiger Fokus erzeugt wird, der wiederum den Entscheidungs- und Handlungsspielraum bestimmt. Bildung wird dann auf das Sammeln von Punkten verkürzt, Geburtsprozesse auf medizinische Interventionen, Ernährung auf den Nutri-Score und körperliche Gesundheit auf Tracking-App-Daten. Klimakrise bedeutet dann CO2-Ausstoß und das Phänomen Krieg verschwindet hinter Statistiken über Territorieneinnahme, Waffenbesitz und steigende Zahlen „gefallener Soldaten“. Hingegen erscheint in einer Sprache, die Bedeutsamkeit einschließt, z.B. Ernährung nicht als Nutritionismus (Scrinis 2013), also als Nährstoffzufuhr, die nach Punkten bewertet wird, sondern gerät als kulturell gewachsene, traditionsreiche und geteilte soziale Praxis in den Blick, die gleichsam von Gastrosophen, Soziologen, Psychologen und Ernährungsexperten beleuchtet wird – nicht zuletzt aber vom in Gesellschaft speisenden Menschen mit seinem gustatorischen Apparat und seinem emotionalen Repertoire. Ein rationaler Zugang zu dem Phänomen Ernährung ist damit umfassend, nicht ausschließend. Ernährung rational zu verstehen und zu gestalten bedeutet sich auf ihre Vielschichtigkeit einzulassen, statt sie in eine einzelne Sprache und Symbolik zu pressen und damit systematisch zu verzerren. Rationalität ist polyglott und setzt insbesondere Emotionen voraus, statt ihnen entgegenzustehen.

Notwendig zum Verstehen: Emotionen

Mary lebt in einer Umgebung in der alles schwarz-weiß ist, farblos. Sie hat noch nie Farben gesehen, weiß aber als „Superwissenschaftlerin“ alles Physikalische, das es über Farben zu wissen gibt. Die Frage dieses viel zitierten Gedankenexperiments, die Jackson (1982) stellt, ist: Lernt Mary etwas neues, wenn sie zum ersten Mal in eine Welt voller Farben tritt? Die Antwort ist: Ja –  sie weiß dann, „wie es ist“ Farben zu sehen. Hierbei handelt es sich um einen wesentlichen Zugang zum Phänomen der Farben, nämlich den der phänomenalen Erlebensqualität. Analog lassen sich auch weltliche Phänomene ohne emotionales Erleben nicht verstehen. Bei Emotionen ist dieser Umstand besonders fundamental, weil „Welt“ und das „Denken“ (in und über Welt) immer schon durchdrungen ist von unzähligen Gefühlen zu und über (siehe oben).

Es lassen sich diverse Fakten, Zusammenhänge, Mechanismen etc. über die Klimakrise oder einen Krieg zusammentragen und es lässt sich damit das verstehen, was sich in Zahlen ausdrücken und nachvollziehen, berechnen, analysieren lässt. Ohne eine entsprechende Affizierung aber ist dieses komplexe Phänomen nicht als bedeutsame Gestalt zugänglich (von Maur 2018). Menschen sterben, Ökosysteme kollabieren, die gesamte Lebensgrundlage wird vernichtet. Diesen Umstand und seine Bedeutung für konkrete Menschen – jetzt und in Zukunft – kann man mit Zahlen und Daten, Analysen und Prognosen allein nicht verstehen. Wer den Horror, den Abgrund nicht empfinden kann, der versteht die Tragweite der Klimakrise oder eines Krieges nicht. Um diese Phänomene auch handlungsanleitend zu durchdringen, bedarf es eines ganzen Netzes an Gefühlen, Überzeugungen und einer (geänderten) entsprechenden Praxis. Jemand der die Klimarkrise zwar als bedrohlich empfindet aber weiter mit dem Flieger durch die Welt jettet, hat das Phänomen der Klimakrise nicht durchdrungen (Goldie (2008, 159) spricht von „knowing-but-not-knowing“). Ein Phänomen zu „durchdringen“, bedeutet also auch adäquate Handlungen abzuleiten (im Gegensatz zur Umweltpolitik oder zur formalen Rechtsprechung). Rational ist es also nicht, Phänomene so zu verklausulieren, dass sie unverständlich werden, sie einfach wegzudenken oder zu ignorieren, sondern sie in ihrer Komplexität affektiv zu erschließen und entsprechend zu handeln. Die „Klimapakete“ der Bundesregierung sind nicht nur ein Ausdruck politisch schlechter Priorisierungen, sondern ein irrationales Ergebnis eines systematischen Erkenntnisfehlers.[4]

Wenn wir absichtlich abstrahieren, berauben wir uns der Möglichkeit, angemessen affiziert zu werden. Das passiert, wenn sich die industrielle Tierproduktion mit all ihren katastrophalen Auswirkungen auf der niedlichen Bärchenwurstverpackung in die Idylle auf dem kleinen Bauernhof verwandelt, ähnlich wie bei Berichten über ertrunkene Flüchtlinge, die allein in Zahlen, nicht aber als Personen erscheinen. Der Psychologe Paul Slovic (2007) nennt das Phänomen der fehlenden Affizierung „psychische Taubheit“ und verweist damit auf den eklatanten epistemischen Fehler, der dadurch erzeugt wird. Insbesondere Abstraktion in der Darstellung oder eine nicht vorstellbar hohe Anzahl von Involvierten korreliert seinen Studien zufolge mit einer fehlenden Affizierung und damit der Unfähigkeit, Bedeutsamkeit zu verstehen. Die Menschen hinter diesen Zahlen verschwänden in ihrem Menschsein, seien als solche nicht fühlbar. Wird diese Fähigkeit, Wesentliches Wegzuabstrahieren, gesellschaftlich kultiviert, dann „stärken [wir] unser Immunsystem durch Bilder vom Schwund der Menschen, der ertrinkenden, zerbombten, ausgesetzten Menschen, die wir in keine Erzählung bringen, nicht weiterdenken, nicht weiter fühlen wollen.“ (Willemsen 2016, 26-27)

Nicht irgendwelche Emotionen

Affektivität und Bedeutsamkeit sind essenzielle Grundlagen für ein rationales Verstehen, das wiederum als Grundlage für rationale Entscheidungen und Handlungen dienen kann. Demnach bereichern Emotionen das epistemische Repertoire von Menschen und sind notwendige Bedingung für Rationalität. Das hat allerdings nichts mit „Gutmenschentum“ zu tun, sondern mit Erkenntnisfähigkeit. Das heißt auch: Emotionen sind nicht per se rational bzw. rationale Entscheidungen und Handlungen befördernd. Ein „Wechsel der Vorzeichen“ – also die Emotion dem Verstand vorzuziehen – ist gleichermaßen verfehlt wie die üblichere Annahme, dem Verstand das Primat vor dem Fühlen zuzusprechen. Humes Diktum, dass die Vernunft Sklave der Leidenschaft sei – und sein sollte – ist ebenso abzulehnen wie eine Verklärung des Gefühls, etwa im Geiste der Romantik, in esoterischen Zirkeln, in denen alles „gut wird“, wenn nur „das Herz“ zu Wort kommt, oder in simplifizierender „Feel good“-Ratgeberliteratur. Nicht nur eine Glorifizierung der Emotionen als Kategorie ist abzulehnen. Eine gleichermaßen banalisierende Denkweise stellt eine Überbetonung der vermeintlichen Wichtigkeit „positiver Emotionen“ dar. Liebe, Mitgefühl, gar Patriotismus werden heroisiert, wohingegen „negative Emotionen“ wie Zorn, Angst oder Scham zu vermeiden seien, wie etwa Martha Nussbaum (2013 und 2016) argumentiert. Im Gegensatz hierzu haben diverse Philosophinnen in überzeugender Weise aufgezeigt, dass gerade die vermeintlich „negativen“ Emotionen, unter anderem Zorn, Angst und Scham, nicht nur für den politischen Kontext in ihrer epistemischen sowie emanzipatorischen Funktion von großer Bedeutung sind (vgl. u. a. Lorde 1984; Spelman 1989; Bartky 1990; Frye 1983; Campbell 1994; Ahmed 2004). Ebenfalls verfehlt ist eine „kompensatorische […] Übersteigerung der Gefühle in der rationalisierten Gesellschaft“, so Hastedt (2005, 101), die interpretiert werden kann als rein(er) (hedonistischer) Eskapismus.

Sich weder des Wegabstrahierens schuldig zu machen, noch in eine dieser Fallen zu tappen, bedeutet im Kontext von Flucht und Krieg, ein konkretes menschliches Leben, eine Person in ihrer Einzigartigkeit, Bedeutung, Komplexität, ihren Wünschen, Hoffnungen, Plänen in Existenz zu bringen. Das heißt, den unermesslichen Wert eines Menschen an sich und für andere zu begreifen und damit auf affektiver Ebene die Bedeutung des (potenziellen) Verlusts dieser Person zu empfinden. Erst damit wird die Grausamkeit von Flucht und das Leid das dadurch erzeugt wird verstehbar. Der Name und die Geschichte Aylan Kurdis und das Bild seines leblosen, an den türkischen Strand gespülten Körpers wurde 2015 auf der ganzen Welt bekannt. Diese mediale „Rahmung“ (Butler 2009) führte nicht nur zu einem internationalen kollektiven Schock, sondern auch zu politischen Handlungen. Allerdings zeigt dies nicht nur die Erkenntnisrelevanz des Affiziertwerdens durch die Beseitigung von Abstraktion, zugleich werden auch damit zusammenhängende weiterer möglicher Erkenntnisfehler deutlich: Es darf nicht darum gehen, das Leid einzelner zu Ikonisieren und damit alle anderen auszublenden. Ebenfalls fehlleitend sind gezielte Affizierungsmanöver à la BILD-Zeitung und Trump, die gezielt mit Hetze und reißerischem Jargon bestimmte Emotionen erzeugen und mit unsinnigen Überzeugungen verbinden, um damit angemessene Emotions-Urteils-Verbindungen überzukompensieren bzw. zu verhindern. Die Bedeutung von Emotionen für Rationalität herauszustellen heißt weiterhin nicht, dass derjenige, der vor der Aufnahme von Kriegsflüchtlingen Angst hat oder diese unbequem findet damit recht hat oder dass es richtig ist, alle Grenzen zu öffnen oder einen absoluten Pazifismus zu vertreten allein weil sich das gut anfühlt. Gerade seitens der Rechten wird die Inanspruchnahme von Emotionen als Realität zu einem politisch gefährlichen Manöver – wenn etwa der AfD Politiker Georg Pazderski oder der Trump-Anhänger Newt Gingrich auf ihre Gefühle verweisen, wenn sie – entgegen aller Statistik – eine steigende Kriminalitätsrate unter Ausländern behaupten (Jensen 2017, 13). An dieser Stelle aber im Modus der Kritik an der Postfaktizität zu postulieren, hier würden Fakten durch Emotionen ersetzt, ist nicht hilfreich. Emotionen ersetzen keine Fakten. Denn sie sind keine „Fakten“. Sie können nur mit Urteilen verbunden werden. Entweder angemessen oder unangemessen. Es ist also nicht die Frage, ob Gefühle oder nicht, sondern ob sie angemessen mit Aussagen verbunden sind.

Beurteilungen: Relativität ohne Beliebigkeit

Aufgrund dieser Schwierigkeiten Emotionen aus dem Erkenntnisprozess auszuschließen, würde bedeuten, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Obwohl jede Menge Unsinn gedacht wird, fordert niemand, das Denken einzustellen. Doch bei unsinnigen Gefühlen wird nicht gefordert diese einer Beurteilung zu unterziehen, sondern sie per se zu verbieten. Als ob Gefühle wie Drogen wären, als ob man nicht unterscheiden könnte, nicht lernen könnte angemessen zu empfinden und seine eigenen und die Emotionen anderer entsprechend zu beurteilen. Es geht hierbei nicht darum, ein Ideal des „makellos richtig Fühlenden“ anzustreben. Es geht vielmehr um die Etablierung einer gesellschaftlich in ihrer Relevanz anerkannten „Praxis der Gefühle“ (Jensen 2017, 162). Ebenso wie Menschen lernen können ihren Sinnesapparat zu kultivieren, d.h. mehr Differenzierungen sehen, hören und schmecken zu können, wie sie lernen können, ihr Urteilsvermögen zu schärfen, indem sie sich mit einer Vielzahl von Begründungen und Argumenten beschäftigen, lassen sich unterschiedlich differenzierte Emotionsrepertoire entwickeln, reflektieren und wenn nötig transformieren. Menschen können ihren irrationalen Hass auf „die Anderen“ genauso überwinden wie die irrationale Überzeugung, dass die Corona-Pandemie eine Erfindung zur Unterwerfung des Volkes sei. Rationalität setzt voraus, die eigenen Erkenntnisquellen nicht nur zu nutzen, sondern immer wieder kritisch zu befragen. Diese Fähigkeit ist allerdings nicht allein auf Subjektebene anzusetzen, sondern umfasst die soziale Praxis. Denn Emotions-Urteils-Verbindungen haben eine stark identitätsstiftende Funktion und schaffen soziale Zugehörigkeit (und Abgrenzung). Das macht deutlich, warum es so schwer ist, Menschen mit anderen Weltanschauungen zu verstehen und zu überzeugen (von Maur 2021).

Der intersubjektive, interkulturelle, transdisziplinäre etc. Diskurs ist immerhin ein Versuch. Und alle Schwierigkeiten Geltungszustimmung zu erreichen, wenn es um andere Weltanschauungen geht, sollten nicht dazu führen, dass jeder Universalismus, jeder ernsthafte Begründungsversuch schon als sinnloses Projekt verstanden werden sollte. Ein erheblicher Teil politischer Äußerungen etwa Trumps, Bolsonaros, Putins etc. lässt sich doch sehr klar als nicht nur irrational, sondern schlicht als „Bullshit“ (Frankfurt 2005) entlarven. Schon deshalb, weil es überhaupt keine ernsthaften Begründungsversuch gibt. Bestenfalls rhetorische Spielchen, billige Propaganda. Ein anderer Teil verstößt so offensichtlich gegen begründbare Normen, dass hier eine kulturelle Relativierung unangemessen ist, z.B. Frauenbeschneidungen, Völkermord oder Angriffskriege. Rationalität lässt sich nicht nur ex negativo herausstellen, indem sie eben genannten Handlungen abgesprochen wird. Es gibt auch positive Vorschläge, Konstrukte, Urteile usw., die im Kern nur schwer zu kritisieren sind, wie „das gute Leben“ (Ulrich 2007) (was auch immer das konkret sein mag) oder die Verringerung von Schmerzen leidensfähiger Wesen. Man muss Werturteile, Gefühle, bedeutsame Gestalten, Weltanschauungen, Ideologien etc. nicht nur beurteilen, man kann das auch, jedenfalls ist man dabei nicht völlig hilflos. Es mag ein schwieriges Unterfangen sein, mit Erkenntnisgrenzen, eines mit unweigerlichen Anmaßungen. Doch es ist begrenzt möglich und notwendig.

Fazit und Ausblick

Eine zukünftige Philosophie der Gefühle sollte ihren Ausgangspunkt in der Prämisse nehmen, dass es, wie dieser Text dargelegt hat, ohne Emotionen keine Rationalität gibt und sie sollte um Argumente und Begründungen für lebenswerte Narrative und entsprechende Emotionsrepertoires ringen. Es wäre ein großer Fortschritt, wenn Sätze wie „Sie folgte nicht ihrem fühlenden Herzen, sondern rational ihrem Verstand“ nicht als normal empfunden würden, sondern Widerstand erregten. Denn diese Aussage ist reiner Unsinn, hat aber als stillschweigend akzeptierte Norm Folgen im Denken, Fühlen und Handeln. Es gibt keine (in diesem Sinne miss-verstandene) „Verstandes“-Liebe. Doch der Liebe nicht zu folgen ist vollkommen irrational. Einzig bei einer Amour fou würde diese Aussage nachvollziehbar sein, doch diese wäre gerade keine „Liebe“, sondern im schlechtesten Sinne Leiden-schaft.

Ein Beispiel für eine höchst unangemessene Verbindung von Emotionen mit einer Aussage gibt Annalena Baerbock (2022) während des Ukrainekriegs. Auf der Grundlage ihrer „wertegeleiteten, feministischen Außenpolitik“ begründet sie die Unmöglichkeit des SWIFT-Ausschlusses russischer Banken. Dabei repetiert sie zuerst die übliche Rationalitäts-Emotions-Vorstellung: „Aber in diesen Momenten muss man trotz allem, was einem gerade durch den ganzen Körper, durchs Herz geht, einen kühlen Kopf bewahren.“ (ebd.) Dieser kühle Kopf kommt dann hoch emotionalisiert (Hamberger et al. 2022) zu dem Schluss, dass die süße, kleine, fleißige Enkelin ihrer armen, alten Oma im russischen Hinterland kein Geld mehr überweisen könne. Damit erzeugt sie eine Relativierung zwischen einer „Oma-Geschichte“ und einem absolut wahnsinnigen Angriffskrieg, der jedes Rechtsprinzip auflöst, Politik auf die Macht der größeren Gewalt bzw. besseren Waffensysteme reduziert und unfassbares Leid erzeugt. Die Unangemessenheit der Verbindung von Emotionen und Aussagen ist hier offensichtlich. Die angemessene Emotionalität bestünde im Begreifen des Wahnsinns eines vollkommen sinnlosen Angriffskrieges mit dem Fokus auf dem Leid jedes Einzelnen und dem daraus abgeleiteten unbedingten Willen dieses Leid zu beenden. Dabei handelt es sich bei Baerbocks „Oma-Geschichte“ um höchst zynische Propaganda. Stellt man ihre Aussage in einen größeren Zusammenhang (Interpretation), wird ersichtlich, dass Baerbock vor allem den Umstand kaschieren soll, dass es gerade nicht um die Interessen sozial Schwächerer geht, sondern um die finanziellen Interessen von mächtigen Wirtschaftsakteuren, die als prioritär gewertet werden. Selbst als Baerbock am nächsten Tag unter dem Druck der europäischen Partner das Gegenteil kommunizieren muss, sodass Schlagzeilen von einem „russischen SWIFT-Ausschluss“ erzeugt werden können, werden ausgerechnet die größte russische Bank des Landes, die Sberbank, und die Gazprombank von diesem Ausschluss verschont. Stattdessen würden die persönlichen Auslandsvermögen von Putin und Lawrow eingefroren. „Wir treffen das System Putin dort, wo es getroffen werden muss, eben nicht nur wirtschaftlich und finanziell, sondern in seinem Machtkern.“ (ebd.) Zwei alte Männer im Kriegswahn, die das sicherlich schwer erschrocken zur Kenntnis genommen und nach sofortigen Maßnahmen gesucht haben, um den Krieg schnellstmöglich zu beenden. Über diese Propaganda der ersten deutschen Außenministerin einer „Friedenspartei“ schockiert zu sein und wütend zu werden ist hingegen ausgesprochen angemessen. Dabei „kühl“ zu bleiben, sachlich, neutral und die Emotionen herauszuhalten würde ein angemessenes Verständnis verhindern. Sarkasmus ist dann das sprachliche Mittel der Wahl, um zumindest den Versuch eines emotional angemessenen Verstehens zu ermöglichen, d.h. einen rationalen Zugang.

Politik ist notwendigerweise affektiv und Emotionen müssen in ihrer positiven wie negativen Gestaltungsmacht der bedeutsamen Wirklichkeiten von Menschen ernst genommen werden. Dabei dürfen normative Fragen nicht ignoriert oder externalisiert werden. Gefordert ist vielmehr ein entschiedenes Eintreten für eine Rationalität die Menschen innerhalb dieser Welt dazu befähigt, friedvoll miteinander ein sinnerfülltes Leben zu führen.

Literatur

Ahmed, Sara (2004): The Cultural Politics of Emotions. Edinburgh: Edinburgh University Press.

Baerbock (2022): Baerbock bestätigt EU-Sanktionen gegen Putin und Lawrow, inkl. Videointerview, in WELT, https://www.welt.de/politik/ausland/article237145901/Ukraine-Krieg-Baerbock-bestaetigt-EU-Sanktionen-gegen-Putin-und-Lawrow.html, 25.02.2022, abg. 3. 3. 2022.

Bartky, Sandra (1990): Femininity and Domination: Studies in the Phenomenology of Oppression. New York: Routledge.

Butler, Judith (2009): Frames of War. London/New York: Verso.

Campbell, Sue (1994): Being Dismissed: The Politics of Emotional Expression. In: Hypatia 9 (3), 46–65.

Damásio, António ([1994] 2004): Descartes’ Irrtum. Berlin: List Verlag.

Frankfurt, Harry (2005): On Bullshit. Princeton: Princeton University Press.

Frye, Marilyn (1983): The Politics of Reality: Essays in Feminist Theory. New York: The Crossing Press.

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Fußnoten

   [1] Dieses Beharren auf solche Gegenbeispiele verweundert auch deshalb, weil sich seit Jahren in der Philosophie, Psychologie, Soziologie und in den Kulturwissenschaften eine „affektive Wende“ vollzieht und Emotionen eine besondere Bedeutung zugesprochen wird – auch für die Politik. Die grundsätzliche Trennung zwischen Rationalität und Emotion bleibt hier jedoch zumeist erhalten und wird als solche kaum hinterfragt. Dann geht es nicht mehr darum, Emotionen als Quelle der Irrationalität auszumachen, sondern auszuloten, wann unter welchen Bedingungen Emotionen – etwa im politischen Diskurs – der als separat angenommenen Rationalität zuträglich sein können. Damit trifft ein solcher Ansatz aber nicht den Kern des Phänomens, sondern unterbreitet lediglich korrigierende Vorschläge. Das ist zu wenig! Für eine Analyse und Kritik dieses umfassenden „Zwei-Sphären-Denkens“ siehe von Maur 2018, Kapitel 1.

   [2] Die Metapher des Gehirns als Computers mit logischen Operatoren taucht im KI-Diskurs immer wieder auf, auch in dessen aktuellen dritten Hype-Phase. Die naive Hoffnung ist, dass KI-Systeme rationaler als Menschen agieren würden. Das ist auch deshalb interessant, weil sich KI-Systeme nicht einmal in einem verengten Sinne als rational erweisen, sondern als genauso rassistisch, sexistisch etc. wie die Daten, mit denen sie trainiert werden.

   [3] Wir verwenden die Begriffe „Emotion“ und „Gefühl“ in diesem Text synonym für konkrete, intentionale affektive Phänomene, vermittels derer Menschen Bedeutsamkeit erschließen (siehe von Maur 2018, Kapitel 2 für eine ausführliche Charakterisierung). „Affektivität“ bezeichnet hingegen als Überbegriff sämtliche affektiven Phänomene, also auch Stimmungen, Atmosphären oder die „präreflexive affektive Intentionalität“ (ebd.), die konkreten Emotionen/Gefühlen zugrundeliegt, die im nächsten Abschnitt als nicht-intentionale affektive Grundstruktur skizziert wird.

   [4] Dabei ist bemerkenswert, dass in den 50 Jahren seit der Veröffentlichung der „Grenzen des Wachstums“ und der gesamten Regierungsverantwortung Merkels über einen Zeitraum von 30 Jahren (Bundesministerin 1991–1998, davon die letzten vier Jahre als Umweltministerin, 2005–2021 Bundeskanzlerin) nichts angemessenes passiert ist, während bei der Finanzkrise, der Corona-Pandemie und dem Ukraine-Krieg sofort Unmengen an Geld zur Verfügung standen und problemlos Maßnahmen umgesetzt wurden, die bis dahin als undenkbar galten.