Skip to main content Skip to page footer

Die Thüringer Entscheidungsmethode – Wahl ohne Lösungsraum

PDF Der Thüringer Versuch, Bodo Ramelow um jeden Preis als Ministerpräsidenten zu verhindern, zeigt welchen immensen Preis man für eine solche Entscheidung „bezahlen“ muss. Die Folgen sind verheerend und langwierig, die Schäden irreparabel und kaum zu ermessen. Und wer profitiert davon? Niemand! Eine Entscheidung mit einem immensen Preis ohne irgendeinen Vorteil, für irgendjemanden. Wenn überhaupt jemand davon zu profitieren scheint, dann ist es, welche Ironie, das Ziel der Attacke, Bodo Ramelow und seine Partei.11:24 02-03-2020

Das interessante daran ist, dass hier professionelle Entscheider kollektiv etwas versucht haben, das offensichtlich unmöglich ist. Wie so häufig hat scheinbar niemand diese zwei Grundfragen gestellt:

  1. Was ist das Ziel der Entscheidung?  
  2. Ist dieses Ziel im möglichen Lösungsraum überhaupt vorhanden?

Ganzer Artikel als PDF: von Maur, E., von Maur, I.:  Die Thüringer Entscheidungsmethode – Wahl ohne Lösungsraum, 2020-03-02, download.

Der Thüringer Versuch, Bodo Ramelow um jeden Preis als Ministerpräsidenten zu verhindern, zeigt welchen immensen Preis man für eine solche Entscheidung „bezahlen“ muss. Die Folgen sind verheerend und langwierig, die Schäden irreparabel und kaum zu ermessen. Und wer profitiert davon? Niemand! Eine Entscheidung mit einem immensen Preis ohne irgendeinen Vorteil, für irgendjemanden. Wenn überhaupt jemand davon zu profitieren scheint, dann ist es, welche Ironie, das Ziel der Attacke, Bodo Ramelow und seine Partei.
 

Das interessante daran ist, dass hier professionelle Entscheider kollektiv etwas versucht haben, das offensichtlich unmöglich ist. Wie so häufig hat scheinbar niemand diese zwei Grundfragen gestellt:

  1. Was ist das Ziel der Entscheidung?  
  2. Ist dieses Ziel im möglichen Lösungsraum überhaupt vorhanden?

Diese Fragen nicht hinreichend zu beantworten bevor man eine Entscheidung trifft ist dilettantisch. Aber eine Entscheidung zu treffen, die überhaupt nicht im Lösungsraum vorhanden ist, zeugt von Irrsinn. Deshalb sind selbst viele der hämischen Kommentare immer noch viel zu harmlos formuliert, weil der Irrsinn auf bloßes Unvermögen reduziert wird.

Herfried Münkler (2020) etwa sieht eine „Krise des politischen Personals“, das sich durch eine „Naivität“, „Skrupellosigkeit und handwerkliche Unfähigkeit“ auszeichnet, deren „Fähigkeiten“ „unterentwickelt“ seien und meint: „Das zeigt, welche Probleme man teilweise in den neuen Bundesländern hat, Abgeordnete zu bekommen, zu rekrutieren, die eine wirkliche Vorstellung von Demokratie […] haben.“ Doch bleibt seine Kritik durchaus nicht auf die neuen Bundesländer beschränkt, wenn er sarkastisch auf Christan Lindner und andere anspielt: „Das zeigt schon, dass wir es hier mit Leuten zu tun haben, die weder in taktischer, noch in strategischer Hinsicht wirklichen Aufgaben gewachsen sind. Das sind Leute, die vielleicht schicke Auftritte hinbekommen, die von Image-Agenturen ein bisschen zurechtfrisiert werden, die aber ihr Handwerk nicht beherrschen.“ Es bleibt die Hoffnung, dass Lindners Forderung gegenüber Fridays for Future, Politik den Profis zu überlassen, Gehör findet.

Umso erstaunlicher ist es, dass auch nach dem Eintreten der katastrophalen Folgen und der vollkommen klaren Unmöglichkeit der angestrebten Ziele unzählige hochrangige Landes- und Bundespolitiker, Politikberater und Journalisten in selber Weise unbeirrt Entscheidungen empfehlen, die ebenso wenig im Lösungsraum vorhanden sind. Zumindest drei Parteivorsitzende haben damit ihre Karriere endgültig beendet. Neben vielen anderen. Wäre es nicht die bessere Lösung den deutlich geringeren Preis dafür zu bezahlen, die Fähigkeit zu erwerben, solche Entscheidungen prinzipiell zu verstehen und nicht immer wieder dieselben dilettantischen Fehler zu begehen? Dieser Text ist als eine Art „erste Hilfe“ gedacht, wenn’s heiß wird, aber noch nicht brennt.

Die Wahl-Entscheidung oder „der Coup“

Das Parlament hatte 90 Abgeordnete mit jeweils einer Stimme. Bodo Ramelows Koalition aus Linken, SPD und Grünen verfügte über 42 Stimmen. In den ersten beiden Wahlgängen war die absolute Mehrheit der Stimmen für die Wahl des Ministerpräsidenten erforderlich, also 46. Dies zu erreichen hätte eine Unterstützung der anderen Parteien erfordert, was in diesem Umfang nicht stattfand. Doch im dritten Wahlgang hätte diese Mehrheit ausgereicht. Das war das Ziel von Linken, SPD und Grünen. Doch in diesem dritten Wahlgang ließ sich zusätzlich der FDP-Politiker Thomas Kemmerich aufstellen und erhielt 45 der 90 Stimmen. Ramelow erhielt nur 44 Stimmen. Es gab eine Enthaltung. Damit ergibt sich, dass aus dem Lager bestehend aus AfD, CDU und FDP zwei Parlamentarier für Ramelow gestimmt haben dürften und sich einer enthalten hat. Alle anderen stimmten für den FDP-Politiker.

Ein „Coup“, so hieß es begeistert. Aber was genau war mit „Coup“ gemeint? Ein Coup setzt voraus, dass etwas schlau eingefädelt wurde, um andere zu überrumpeln und mit reicher Beute davon zu kommen. Doch selbst wenn in Thüringen irgendjemand überrumpelt worden wäre, was trotz unentwegter Beteuerungen völlig unplausibel ist, stellt sich doch die Frage was daran schlau war und wo hier die „Beute“ zu finden sein soll. Ramelow wurde vorübergehend als Ministerpräsident verhindert. Das ist gelungen. Und dann? Wie sollte es danach weitergehen? Wie sah der sich daran anschließende Plan aus? Was für eine Gestaltungsidee hatten diese „Politprofis“?

Die Thesen zur Regierungsbildung

Dazu lassen sich zwei Thesen finden. Die erste beschreibt wie die Wahl legitimiert werden könnte, ohne dem Makel einer AfD-Beteiligung ausgesetzt zu sein. Die zweite These versucht ein Konstrukt zu bilden wie in diesem Parlament politische Beschlüsse gefasst werden könnten ohne die Beteiligung von Linken und AfD.

These 1: Eine Kooperation mit der AfD hat es bei der Wahl nicht gegeben!

Die erste These besteht in der Behauptung, dass man deshalb nicht mit der AfD kooperiert habe, weil man nicht gewusst habe was die AfD wählen werde, zumal die Wahl geheim gewesen sei. Darüber hinaus könne man nichts dafür, wenn die AfD zufällig dieselbe Wahl träfe.

Das Hauptargument hier wird konstruiert, indem die Kooperation von AfD, CDU und FDP, die zur Wahl Kemmerichs geführt hat, als eine Nicht-Kooperation umgedeutet wird. Das ist zwar völlig ver-rückt, doch scheint dieses Vorgehen Menschen derart irritieren zu können, dass sie ihre Gewissheiten verlieren. Das reicht schon aus. Jeder sieht glasklar: AfD, CDU und FDP haben zusammen (ko = co = zusammen) einen Ministerpräsidenten gewählt (operiert = operari = wirken/arbeiten). Drei Parteien bringen eine gemeinsame Willenserklärung über den zukünftigen Thüringer Ministerpräsidenten zum Ausdruck, die glasklar und binär-logisch ursächlich dafür ist, rechtswirksam eine Wahl zu vollziehen und eine ganz bestimmte politische Situation in Existenz zu bringen. Hätte auch nur ein einziger der daran Beteiligten anders gehandelt wäre ein anderes Ergebnis herausgekommen, diese Entscheidung hätte als „Ganzes“ nicht entstehen können. In diesem Sinne handelt es sich um eine geradezu vorbildliche Kooperation. Wie wird nun aber diese Kooperation zu einer Nicht-Kooperation umgedeutet? Wie funktioniert dieser Trick?

Trick 1: „Wenn wir nicht wissen wie die anderen abstimmen werden ist das keine Kooperation! Das ist dann irgendwie bloßer Zufall. Da können wir auch nichts machen!“

Trick 2: „Wenn wir das vorher nicht aktiv absprechen ist das keine Kooperation! Das Ergebnis ergibt sich bloß irgendwie so.“

Trick 3: „Ob wir das jetzt alles wissen oder nicht, wir können nichts für die Entscheidungen der jeweiligen Abgeordneten bzw. der AfD. Das ist doch nicht unser Problem! Unsere Entscheidungen sind davon vollkommen unabhängig, das Ergebnis hat nichts damit zu tun.“

Trick 4: „Ja, da ist etwas schiefgelaufen! Wir haben das nicht kommen sehen, es nicht verstanden, wir wurden ganz übel reingelegt oder wir wurden bösartig verführt. Aber jetzt ist das Kind ja nun mal in den Brunnen gefallen! Wir müssen jetzt nach vorne schauen und das Beste daraus machen!“

Trick 1 und 2 erinnern an die drei chinesischen Affen: Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. Ergänzt um einen vierten: Nichts wissen und nichts denken! Oder an den Vogel Strauß. Kleine Kinder halten sich die Hände vor die Augen, damit man sie nicht mehr sieht. Jeder, wirklich jeder sieht den Vollzug und das Ergebnis der gemeinsamen Wahl, die damit hinreichend erklärt ist, aber ein paar „Schlaumeier“ behaupten einfach, dass für eine „echte“ Kooperation noch zusätzliche Bedingungen notwendig wären. Alles ist klar, aber wenn man Begriffe kapert, kann man eine schöne Sprachverwirrung erzeugen. Wichtig dabei ist, den Fokus seines Gegenübers auf diese völlig absurde Frage zu lenken, ihm die Beweislast für eine Widerlegung aufzubürden und jeden diesbzgl. Versuch als unhaltbar abzuwehren. Dann wiederholt man ganz konsequent immer wieder denselben Unsinn, mit unerschütterlichem Beharrungsvermögen. Es reicht dann ein IQ von 70, um so gut wie jeden argumentierenden Menschen bloßzustellen.

Trick 3 funktioniert genauso, ist aber etwas interessanter. Das Ganze wird in Teile zerlegt, die unabhängig voneinander behauptet werden. „Das Ganze“ gibt es dann nicht mehr. Und wo kein Ganzes ist, kann keine Kooperation stattfinden. („There is no such thing as society!“ (Margret Thatcher)) Es gibt dann keine Parteien mehr, kein Parla­ment und keinen Abstimmungsprozess. Nur wie durch Zauberhand ein Ergebnis. Das Ganze, die Wahl des Ministerpräsidenten, setzt zwar gerade die gemeinsame Wahl der Stimmen voraus, als notwendige Bedingung, doch irgendwie ist dieses gemeinsame gar nicht gemeinsam, es ist nichts als die Summe seiner Teile. Nur ist in diesem Fall auch die Summe der Teile ein Ganzes, doch auf mysteriöse Weise handelt es sich um ein Nicht-Ganzes. Wir sehen diesen Trick oft, sogar in wissenschaftlichen Diskursen. Doch in diesem Fall wie auch bei Thatcher ist diese Umdeutung so offensichtlich absurd, dass noch Jahrzehnte darüber gelacht werden dürfte.

Auf Trick 4 haben insbesondere die Vorsitzenden von CDU und FDP beharrt. Selbst als Kramp-Karrenbauer und Lindner schon beteuert haben, dass die Wahl Kemmerichs ein Fehler gewesen sei, verlangten sie von SPD und Grünen das Ergebnis zu akzeptieren und mit CDU und FDP unter dem FDP-Ministerpräsidenten eine Regierung zu bilden bzw. eine „Expertenregierung“ wie in Österreich zuzulassen. Wir mussten das mehrfach nachlesen, weil wir dachten uns verlesen zu haben. Da verlangten die beiden Parteivorsitzenden, die gerade die vermutlich größten Fehlentscheidungen ihrer politischen Karriere getroffen hatten, von ihren politischen Gegnern es ihnen gleich zu tun. SPD und Grüne sollten ihrem Koalitionspartner in den Rücken fallen, zum anderen Lager wechseln, weil andere eine Katastrophe ausgelöst hatten? Welche Gründe aber hatten sich Kramp-Karrenbauer und Lindner für einen solchen Selbstverrat ausgedacht? Wieso sollte jemand das tun? Und wie würden wohl die Reaktionen der Wähler ausfallen? Es würde wohl niemanden erstaunen, wenn diese Parteien nach einer solchen Entscheidung nicht mehr im nächsten Landtag vertreten wären und auch die Umfragewerte der Bundesparteien ins bodenlose abstürzen würden. Doch der eigentliche Witz dabei ist, dass (nicht nur) diese beiden Parteivorsitzenden(!) auf einer Lösung beharren, die es nicht im Lösungsraum gibt (siehe These 2).

Auch diesen Trick 4 sehen wir häufig. Manchmal funktioniert er. In dieser Variante ist er allerdings derart überzogen, dass er die Lage der Betroffenen auch noch verschlimmert. Wie man auf die Idee kommen kann, einen beliebten Ministerpräsidenten durch einen FDP-Politiker zu ersetzen, der mit Ach und Krach die 5%-Hürde genommen hat, um damit als „bürgerlicher“ Gegenentwurf zur disruptiven Politik der AfD zu erscheinen, erschließt sich uns nicht. Doch auch noch davon auszugehen, dass „bürgerliche“ Wähler soweit ihren moralischen Kompass verloren haben, dass sie dies akzeptieren, sollte „Bürgerlichen“ doch zu denken geben. Die meisten Menschen haben eine ganz gute Intuition für Gerechtigkeit und verlangen, dass sich die Täter erstens glaubhaft reumütig zeigen und zweitens proaktiv darum kümmern den von ihnen erzeugten Schaden wieder zu beseitigen. Kluge Berater erkennen, wenn man „verkackt“ hat und ändern die Strategie. „Don’t dig, if you’re in a hole!“ Doch entweder haben diese Entscheider keine Berater, vollkommen unfähige Berater oder sie sind konsequent beratungsresistent.

Es gibt auch empirisch keinerlei Zweifel daran, dass alle Parlamentarier eindeutig wissen wann eine Kooperation vorliegt, immerhin gibt es die parlamentarische Praxis, unabhängig von deren Inhalt, gegen Anträge zu stimmen, die von als radikal eingestuften Parteien eingebracht werden. Das kann im Ergebnis eine Übertreibung sein, die manchmal kuriose Züge annimmt, wenn etwa die AfD Anträge stellt, denen jeder vernünftige Mensch zustimmen müsste, die aber aufgrund des absoluten Kooperationsverbots abgelehnt werden. Die AfD stellt diese Anträge genau deshalb, um zu zeigen was für absurde Züge der rechtsstaatliche Parlamentarismus vordergründig annehmen kann. Doch manchmal muten im Kern gut durchdachte und rationale Handlungen kurios an. Die Welt ist keine Scheibe! Und eine Kooperation ist eine Kooperation, ganz gleich was sich Begriffsverwirrer ausdenken.

Fazit: Es gibt in dieser Konstellation entweder Kooperationen oder nicht. So schlicht ist das. Jede Entscheidung findet statt, weil es eine Kooperation gibt. Wer das zu verdrehen versucht lügt nicht nur, sondern zerstört die Grundprinzipien des demokratischen Rechtsstaates und gehört nicht in ein Parlament.

These 2: Eine Koalition aus CDU, SPD, Grünen und FDP kann ohne Kooperation mit AfD und Linken regieren!

Die zweite These besagt, dass der FDP-Ministerpräsident ohne die AfD und die Linken eine Regierung bilden könne, mit der er Mehrheiten für sein Programm organisieren kann. Die FDP ist gerade noch so in den Landtag eingezogen, stellt aber den Ministerpräsidenten. Das widerspricht in derart eklatanter Weise den parlamentarischen Regeln, dass einem der Atem stockt. Und wer soll bei dieser Idee mitmachen? Die Idee besteht darin, dass alle anderen Parteien außer den Linken und der AfD dieses Ergebnis einfach hinnehmen und sich dem fügen sollten. Es sollen also FDP, CDU, Grüne und SPD eine Regierung unter einem FDP-Ministerpräsidenten ohne Rückhalt in der Bevölkerung bilden. Das ist wirklich die Idee?

Nur warum haben diese Parteien das nicht schon vorher in Erwägung gezogen, ganz ohne „Coup“? Warum ist dann nicht gleich ein Mitglied der CDU als Kandidat angetreten, am besten ihr Spitzenkandidat Mike Mohring, der doch genauso gewählt werden hätte können und eine deutlich höhere Legitimation durch die Bevölkerung gehabt hätte? Ganz einfach deshalb, weil das zusammen 39 von 90 Stimmen ergibt und damit für nichts, rein gar nichts eine Mehrheit. Das ist eine extrem einfache Rechnung. Sie führt zu einer ganz simplen Erkenntnis. Es gibt keine Lösung für irgendeine Mehrheit ohne AfD und Linke. Es gibt für diese Idee keine Lösung, die im Lösungsraum liegt. Es spielt keine Rolle wie man politisch steht oder was man gut findet oder sich wünscht. Eine solche Lösung ist und bleibt unmöglich. Was gibt es daran nicht zu verstehen?

Die Theorie der „sauberen Hände“ oder: Die Illusion der Neutralität

Daraus ergibt sich der eigentliche „Witz“ der Geschichte. Denn die Bundes-CDU verlangt, vertreten durch ihre Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer, dass es „keinerlei Zusammenarbeit mit AfD und Linken“ gebe. Dies sei, so wiederholt sie gebetsmühlenartig, gültiger Parteitagsbeschluss und deshalb absolut einzuhalten. Ihren Rücktritt begründet sie sogar damit, dass dieser Beschluss in der Partei nicht konsequent eingehalten werden würde. Diese Begründung ist zwar offenkundig falsch und eine weitere völlig unnötige Kommunikationspanne, doch weist die Aussage in die richtige Richtung. Kramp-Karrenbauer, musste deshalb zurücktreten, weil sie allen Ernstes durchsetzen wollte, dass dieser Beschluss umgesetzt wird. Auch an dieser Stelle mussten wir mehrfach nachlesen, ob das wirklich stimmen kann. Erst da bekamen wir eine Ahnung, warum die Thüringer CDU-Fraktion ihre Anweisungen missachtet hat und warum ihr fünfstündiges Krisentreffen ohne jedes Ergebnis geblieben ist. Wie kann man auf einer Lösung beharren, die außerhalb des Lösungsraums liegt? Auch noch Wochen nach dem Vorfall! Doch damit ist sie nicht alleine. Auch der Generalsekretär Paul Ziemiak, der CDU-Hoffnungsträger Friedrich Merz u.v.a.m. fordern konsequent weiter, was unmöglich ist.

Vielfach wurde die sog. Hufeisentheorie bzw. Äquidistanzregel kritisiert, nach der die politischen Ränder links und rechts gleich radikal und deshalb absolut abzulehnen seien. Gerade in Hinblick auf Bodo Ramelow und Bernd Höcke wird diese Gleichsetzung von den meisten Kommentatoren aber als reichlich unangemessen bewertet, weil Ramelow eine doch eher bodenständig sozialdemokratische Politik gemacht habe, während Höcke richterlich legitimiert als Faschist bezeichnet werden darf. Doch diese Kritik trifft den Punkt nicht. Der eigentliche Punkt liegt darin, dass beim Ausschluss von AfD und Linken eben nur 39 von 90 Stimmen bleiben und da ist keine Mehrheit zu finden. Es ist mithin unmöglich sich gleichzeitig gegen die AfD und die Linke zu stellen. Es gilt von Anfang an: In jeder einzelnen Entscheidung stellt sich die Frage: Gibt es eine Kooperation entweder mit der AfD oder mit der Linken? Das ist tatsächlich mal alternativlos. Außerhalb dieser Logik gibt es nichts! (Tertium non datur!)

Ich sehe immer wieder Beschlüsse, die etwas verlangen, das einfach nicht im Lösungsraum liegt. Da wird verlangt etwas wörtlich zu interpretieren oder zu übersetzen. Die Sprache dürfe sich nicht verändern. Kulturelle Entwicklungen und technischer Fortschritt müssten unterbunden werden. Intersexualität solle verhindert und Homosexualität „geheilt“ werden. Man kann sogar dementsprechende Gesetzte erlassen. Aber das ist nicht nur reichlich irre, sondern schlicht unmöglich.

Doch gerade bei Entscheidungen scheint es ein besonderes Problem zu geben. In unseren Kursen haben wir die Teilnehmer immer wieder in Entscheidungssituationen versetzt, die für sie unangenehm waren, weil alle möglichen Alternativen schwer auszuhalten sind. Fast alle Probanden versuchen der Situation zu entkommen statt eine sinnvolle Entscheidung zu treffen. Entweder wird behauptet das Ganze sei alternativlos („Mer­kelei“), man entscheidet sich dazu länger nachzudenken als für die Entscheidung zur Verfügung steht („Theoretisiererei“) oder (mit demselben Ergebnis) meint „nicht“ zu Handeln oder „neutral“ zu sein. Der gedankliche Trick besteht darin, sich aus der Situation, aus der Welt, in die „Schweiz“ oder in den Elfenbeinturm zu denken. Das aber ist reine Illusion! Menschen sind unweigerlich in diese Welt „geworfen“ (Heidegger). Das einzige Entkommen besteht darin, sich aus der Welt herauszunehmen, d.h. die letzte Alternative zu wählen, den Suizid (Camus, Sartre). Doch die Tragik dieser Entscheidung besteht darin, einsehen zu müssen, dass selbst diese Alternative eine Entscheidung in der Welt ist, die Konsequenzen für diese Welt hat, die man ursächlich mitbestimmt und also zu verantworten hat.

Das heißt konkret: Die Parlamentarier von CDU und FDP haben sich wählen lassen, als aktive Politiker, um segensreich auf die Welt einzuwirken und wollen und sollen sich jetzt der Verantwortung entziehen. Doch beim besten Willen, das ist in dieser Konstellation undurchführbar! Das geschickteste, was sie tun hätten können, wäre gewesen überhaupt keinen Gegenkandidaten zu Ramelow aufzustellen und sich im dritten Wahlgang zu enthalten. Damit hätten sie nach außen hin den Anschein gewahrt, dass sie weder mit der AfD noch mit den Linken gestimmt hätten. Auch das wäre nur eine Illusion gewesen, denn die Enthaltungen wären gerade keine neutralen Stimmen gewesen, sondern nichts anderes als Stimmen für Ramelow, mit einem symbolischen Charakter des Widerstands. Es gibt keine Entscheidung in dieser Konstellation des Thüringer Parlaments und zwar keine einzige, auch jenseits der Wahl des Ministerpräsidenten, die nicht kooperativ entweder mit den Linken oder der AfD getroffen werden kann. Selbst die Entscheidung für Neuwahlen und der Verzicht auf eine weitere Tätigkeit als Parlamentarier bedeutet eine Entscheidung und zwar eine Entscheidung über die weiteren Entscheidungen des zukünftigen Parlaments. Die Idee, Entscheidungen aus der „Geworfenheit in die Welt“ irgendwie herauslösen zu können, um sich die Hände in keiner Weise schmutzig machen zu müssen, ist nichts als reine Fiktion!

Es gab und gibt nur die Wahl zwischen einer Kooperation mit der AfD oder den Linken, jedenfalls solange bis sich die Mehrheitsverhältnisse nach einer Neuwahl geändert haben – falls diese sich verändern werden. CDU und FDP mussten sich entscheiden. Und das haben sie getan! Das Narrativ, das sie damit in der breiten Bevölkerung erzeugt haben ist: CDU und FDP haben sich für eine Kooperation mit der faschistischen Höcke-AfD entschieden, um einen sozialdemokratischen, erfolgreichen und beliebten Ministerpräsidenten zu verhindern. Sie haben damit einen Dammbruch erzeugt, faschistische Politik hoffähig gemacht und gezeigt, dass sie vollkommen skrupellos sind. Und sie haben damit eigene faschistische Tendenzen offenbart. Das ist wohl der Worst Case! Und statt für eine Veränderung des Narrativs zu sorgen beharren Annegret Kramp-Karrenbauer, Christian Lindner, Friedrich Merz, Jens Spahn, Kai Wegner, Paul Ziemiak u.v.a.m. immer weiter darauf, dass eine Lösung umzusetzen sei, die nicht im Lösungsraum liegt. „Der Essener Abgeordnete Hauer meinte, wer ein CDU-Mandat dazu missbrauche, um einen Linken – gegen klare Parteitagsbeschlüsse – zum Ministerpräsiden­ten zu wählen, sollte aus der Partei ausgeschlossen werden.“ (DLF 2020) Wir lesen diese Dinge. Jeden Tag. Kopfschüttelnd denke wir: „Steigt endlich ab!“ (Alte Indianerweisheit: „Wenn du auf einem toten Pferd sitzt, steig ab!“)

Narrative Entlastungsstrategien

Bemerkenswert sind auch die narrativen Entlastungsstrategien, zu denen sich „objektive“ Journalisten u.a. hinreißen lassen. Um nur einige wenige aufzugreifen:

Narrativ 1: Verführung durch die AfD

Es ist weder empirisch noch theoretisch glaubhaft, dass nicht allen Beteiligten sehr wohl bewusst war, was sie taten. Die Begeisterung bei den Beteiligten war im Anschluss groß und das Beharren darauf alles richtig gemacht zu haben hält bei einigen nach wie vor an. Das erinnert doch sehr an die Entlastungsstrategien nach dem zweiten Weltkrieg: „Der Hitler ist schuld! Wir haben von nichts gewusst. Und wir sind von diesem Teufel verführt worden!“ Doch die AfD macht genau ihr Geschäft! Ausgerechnet Bernd Höcke als Verführer zu stilisieren ist doch grotesk! Es ist wichtig zu sehen, dass hier zumindest Mohring, Kemmerich und Lindner eine politische Unfähigkeit attestiert werden muss, die bestenfalls mit Worten wie „unfassbar!“ beschrieben werden kann. Doch es ist noch wichtiger zu sehen, dass lediglich drei Parlamentarier nicht dabei mitgemacht haben. Alle anderen haben bewiesen, dass sie ihrem Amt nicht gewachsen sind. Sie ganz persönlich tragen die Verantwortung für ihre Entscheidung. Das sollte gesehen werden! Diese unausweichliche Analyse ist erschreckend, denn es ist nicht zu erwarten, dass hier eine Veränderung stattfinden wird. Das zeigt auch die weitere Irrfahrt der Landes-CDU, die eine Neuwahl um ein Jahr verzögert, ausschließlich deshalb, weil sie hofft damit bessere Wahlergebnisse erzielen zu können und weil die Verantwortlichen es für sich selbst wichtiger finden nicht arbeitslos zu werden als der Partei und Land dienlich zu sein.

Das alles sind Strategien zur Bewältigung der kognitiven Dissonanzen. Dabei sollte man anderen nicht auch noch helfen. Kognitive Dissonanzen lassen sich in diesem Fall deutlich besser reduzieren, indem die „Geworfenheit in die Welt“ akzeptiert wird und sinnvolle Entscheidungen getroffen werden.

Narrativ 2: Was für eine Überraschung!

Das Wahlverhalten der AfD sei für die anderen nicht erkennbar gewesen. Kemmerich sei nur symbolisch angetreten, wobei niemand damit gerechnet habe, dass es zu diesem Ergebnis kommen könnte.

Es kommt nicht darauf an, ob sich AfD, CDU und FDP tatsächlich abgesprochen haben, sie haben wissentlich eine Möglichkeit geschaffen, die ohne deren gewollte Umsetzung eine Gefahr darstellt, die in keinem Verhältnis zu einem angeblich rein „symbolischen Akt“ steht. Bei aller bewiesenen Naivität, wie plausibel ist eine solche These? Niemand der bei Sinnen ist probiert so etwas mal aus, nur um ein Symbol zu setzen, ist dann so überrascht, dass er „übermannt“ ist und die Wahl annimmt. Mit einem solchen Narrativ soll eine Landesregierung begründet werden?

Hans-Georg Maßen, der Star der sog. Werteunion, hatte vorher genau dieses Szenario im Deutschlandfunk vorgeschlagen. Wie auch andere. Das Ganze wurde breit diskutiert und davor gewarnt. Doch selbst wenn niemand darüber gesprochen hätte, es ist vollkommen unplausibel, dass die Beteiligten diese Möglichkeit nicht gesehen haben wollen. Deshalb ist es umso erstaunlicher, dass sie die Konsequenzen nicht gesehen haben. Hat Lindner allen Ernstes geglaubt damit durchzukommen? Doch trotz der Erkenntnis welche Folgen diese Entscheidung hat, beharren einige sogar öffentlich darauf, genau dasselbe wieder zu tun. Wenn Menschen mit ihrem Kopf immer wieder vor dieselbe Wand rennen und die einzige Verhaltensänderung darin besteht noch überzeugter von ihrer Entscheidung zu sein, dann wäre es wirklich wichtig diese Irren durch Politiker zu ersetzen, die konstruktive Lösungen umsetzen.

Narrativ 3: AfD verhält sich überraschend unparlamentarisch, weil sie den eigenen Kandidaten nicht wählt

Was sollte daran überraschend sein, wenn sich die AfD nicht an Regeln hält? Das ist doch ihr Kerngeschäft. Und warum sollte sich die AfD (wie alle anderen auch!) nicht taktisch verhalten? Taktisches Verhalten als unmoralisch zu geißeln ist lächerlich! Zudem hat die FDP erst in diesem Wahlgang einen Kandidaten aufgestellt, was durchaus ein legitimer Grund ist das eigene Wahlverhalten zu ändern. Wir haben dieses Argument immer wieder gehört, jedes Mal mit einem hohen Maß an Empörung bei den Sprechern. Wer auf diese Weise argumentiert lenkt vom Wesentlichen ab. Die Prinzipien, die von der AfD beschädigt werden, sind von ganz anderer Tragweite.

Narrativ 4: Die AfD beschädigt mit diesem „Coup“ den Parlamentarismus

Das ist einfach falsch! Es sind die CDU und die FDP die das tun. Sie haben diese Entscheidung kooperativ mit der AfD getroffen. Doch während das für die AfD eine erwartbare Entscheidung war, haben CDU und FDP genau das beschädigt, was sie als „bürgerlich“ zu verteidigen behaupten. Das macht ihre Entscheidung nicht verwerflicher als die der AfD, doch sie stellen sich damit auf dieselbe Stufe. Es sind nicht die Radikalen, die den Parlamentarismus beschädigen. Auch wenn Gegner des Parlamentarismus nicht ins Parlament gehören, sind sie doch gut auszuhalten. Es sind die Verharmloser und die Nazi-Versteher, die „shifting baselines“ erzeugen. Sie sorgen dafür, dass „normalisiert“ wird, was ein Tabu war. Niemand, der ein christliches und/oder liberales Fundament hat würde sich zu solchen Entscheidungen hinreißen lassen. Der Bruch wäre zu fundamental. Die Reaktion Gerhard Baums (2020) war die eines echten Liberalen, sie war blankes Entsetzen.

Doch das reicht ihnen scheinbar nicht. Sie spielen auch noch selbst diese „Spielchen“ der Disruptoren wie Trump, Putin, der AfD etc. Sie spielen selbst die „Spielchen“, mit denen sie alles verdrehen und die grundlegenden Prinzipien beschädigen, ohne die Begründung, Rechtsstaatlichkeit, Ethik, Demokratie etc. unmöglich werden. Das zeugt von einem erstaunlichen Maß an Verantwortungslosigkeit und der Blindheit gegenüber allem was Politik im Kern ausmacht. Was wollen diejenigen, die so handeln? Disruptoren wollen alles zerstören, um dann eine perfekte Welt aufzubauen. Wie pathologisch solche naiven Ideologien sind zeigt die Geschichte in ausreichend erschreckender Weise. Unsere Erkenntnisse waren doch schon weit über dieses Stadium hinaus. Wieso fallen wir hier ins „Mittelalter“ zurück?

Narrativ 5: Für die AfD war es ein „Coup“, sie profitiert davon

Das schätzen wir anders ein. Höcke versteht das „Spiel“ nicht. Um Tabus zu brechen reicht es nicht draufzuhauen. Die disruptiv-populistische Taktik besteht drain immer etwas zu provozieren, um einen Aufschrei zu erzeugen, dann zurückzurudern, zu verharmlosen und zu verwirren. Damit nähert man sich langsam an das Ziel an. „Shifting baselines“ müssen so langsam verschoben werden, wie der Frosch im Wasserglas erhitzt werden kann, ohne ihn zu erschrecken. Sonst gibt es ein zu großes Entsetzen, die Gegenwehr (Reaktanz) auslöst. Der Schritt in Thüringen war viel zu groß, viel zu radikal und viel zu aufmerksamkeitserregend. Höcke ist zu radikal und zu ungeduldig. Es hätte einer AfD-Fraktion benötigt, die ein „bürgerlich-konservatives“ Narrativ erzeugen kann. Die so tut als ob sie eigentlich genauso ist wie die CDU, nur „die Merkel müsse halt weg“ und „die D-Mark muss wieder her“. Und auf der anderen Seite hätte eine Linkspartei stehen müssen, bei der die „kommunistische Plattform“ das Sagen hat, die viele SED-Funktionäre aufweist, die Verstaatlichungen fordert etc. So wie der Weg schon lange in den Kommunalparlamenten geebnet wird. Da kennt man sich. Da mag man sich. Da ist man im selben Schützenverein und guter Nachbar. Da werden die Springerstiefel durch einen feinen Zwirn ersetzt, man ändert seine Sprache und engagiert sich sozial für die deutsche Nachbarschaft. Das verschiebt die Grenzen – schonend, aber effektiv.

Auf der kommunalen Ebene gibt es schon länger eine weitere Variante wie die Kooperation aus AfD, CDU und FDP zur Nicht-Kooperation umgedeutet wird. Sie stellt eine viel geschicktere Methode für shifting baselines dar. Es gebe zwar keine Kooperation, so die Umdeutung, aber man arbeite in „Sachfragen“ zusammen. Diese „Sachfragen“ stünden jenseits von Ideologie und Parteipolitik und seien deshalb ganz unbedenklich. Diese Spaltung erzeugt Menschen mit zwei Anteilen (diese Technik hatte Merkel zur Rettung zu Guttenbergs versucht). Nur der eine Teil ist Faschist. Der andere Teil ist vermeintlich „sachlich“ und demnach „rational“. Mit diesem Teil kann man dann auch Biertrinken gehen. Und Beschlüsse fassen. Auf diese Weise kann man sich langsam annähern, persönlich und politisch. Es wird Identität erzeugt. Es werden Wir- und Sie-Gruppen gebildet. Die anderen werden dann immer fremder, immer etwas problematischer, feindseliger und zum eigentlichen Problem. „Die anderen“, das sind auch die in den Landeshauptstädten, Berlin sowieso. Das sind die Politiker, die Eliten, die Intellektuellen, die Wessis etc. „Die verstehen uns einfach nicht! Die sind ja weit weg! Um uns kümmert sich hier keiner! Wir haben ganz andere Probleme! Wir reden hier bloß über Sachfragen!“ Was dann Sachfragen sind und werden, ist am Ende Auslegungssache und wenn die Mittel für Soziales, Bildung, Kultur und andere kritische Stimmen gekürzt werden, ist das auch keine politische Entscheidung. Oder? „Die haben einfach keine Ahnung, was hier die Sachfragen sind!“

Das aber hätte noch weiter reifen müssen. Es hätte noch Zeit gebraucht, um die Mehrheit nicht zu erschrecken. So überstürzt hat es vielleicht die AfD-Anhänger und ‑Sympathisanten (auch von CDU und FDP) gestärkt, ihr Wir-Gefühl vertieft. Alle anderen jenseits der AfD-Begeisterten, und das ist die überwiegende Mehrheit, hat das aufgeschreckt und zu erhöhter Aufmerksamkeit angeregt. Die plötzliche Hitze bringt den Frosch dazu aus dem Glas zu springen. Er wird dann wachsamer. Und er bildet Reaktanz aus. Doch bei Reaktanz sind shifting baselines wesentlich mühsamer zu erzeugen.

Fazit

Uns war wichtig dieses extrem einfache Beispiel zu verwenden, bei dem binär-logisch gezeigt werden kann, dass es keine der von AfD, CDU und FDP erdachten Lösungen im Lösungsraum gibt. Das ist offen-sichtlich. Uns ist nicht zugänglich wie ein menschlicher Geist gestrickt sein muss, um das ausblenden zu können. Uns erstaunt nicht, dass es Verrückte gibt, verbohrte Dogmatiker, die gegen jede Vernunft auf Irrsinn beharren. Die Welt ist voll davon. Parteien auch – alle! Hier aber haben die Parlamentarier von CDU und FDP fast geschlossen gezeigt, dass sie nicht einmal einfachste Zusammenhänge verstehen können. Wenn selbst „Politprofis“ nicht willens oder in der Lage sind derart einfache Zusammenhänge zu verstehen, dann fürchte ich, dass es sich dabei bereits um ein breites Phänomen in der Bevölkerung handelt, um einen Kulturwandel, der in allen möglichen Bereichen zu erkennen ist, in der Politik, in den Medien, den Universitäten, den sog. sozialen Netzwerken etc. Und wir fürchten, dass den Parlamentariern die Konsequenzen ihrer Entscheidung auch zukünftig nicht zugänglich werden. Um die Konsequenzen ihrer Entscheidungen erfassen zu können, bräuchte es weit mehr als die Fähigkeit Schlussfolgerungen in binär-logischen Modellen ziehen zu können, doch wenn ihnen nicht einmal dies gelingt, wie sollen ihnen Verstehensprozesse möglich werden, die komplex, vielschichtig, verzweigt, undurchdringlich, widersprüchlich, verwirrend, dynamisch etc. sind?

„Weltverstehen“ ist nicht ein-fach. Echte Lösungen setzen Verstehensprozesse für  komplexe, bedeutsame Gestalten voraus, die nicht als simple Methode erlernt, an eine Autorität übergeben oder von einer KI errechnet werden können. Solche Fähigkeiten sind es, die wir bei Politikern, Journalisten, Wissenschaftlern, Industriellen etc. benötigen, bei Menschen mit verantwortungsvollen Entscheidungsaufgaben. Nur mit solchen Fähigkeiten lassen sich Probleme lösen, lässt sich Zukunft gestalten, kann „das gute Leben“ möglich bleiben. Dafür braucht es eine offene Gesellschaft, einen demokratischen Rechtsstaat mit Bürgern, die dessen Grundprinzipien fundamental verinnerlicht haben, alltäglich lebendig verwirklichen und mit Zähnen und Klauen verteidigen.

Doch stattdessen werden die „Bürger“ immer wütender, lauter und kurzatmiger. In Universitäten werden Punkte gesammelt. In Internetforen wird geschrien, die Welt in 0-1-Bausteinen gedacht und die einzige Kreativität fließt in Fantasy-Spiele, bei denen Verschwörungstheorien erdacht werden, die quasi-religiös zu „der Realität“ erklärt werden. Die anderen schauen sich Schminktipps bei Youtube an und glauben, dass „Shoppen & Posten“ Ausdruck einer gründlichen Reflexion über Lebenssinn wäre (Generation-Y-These). Es gibt auch andere, die sich dieser Kultur widersetzen. Gott sei Dank! Aber laut gerufen wird nach Disruptoren, Opportunisten und Selbstdarstellern, nach starken Männern mit einfachen Lösungen, die regressive (kleinkindliche) Vorstellungen einer „heilen Welt“ schaffen sollen. Das führt immer in eine Katastrophe! (Popper)

Das eigentliche Problem besteht drain, dass durch diese Kultur der Geringschätzung von „Verstehen“ und „Begründen“, in der breiten Bevölkerung mehr und mehr das Verständnis für die Notwendigkeit grundlegender Prinzipien zerstört wird. Doch ohne ein Verständnis für diese grundlegenden Prinzipien kann wiederum echtes „Verstehen“ und „Begründen“ nicht mehr gelingen, weil dafür genau die Prinzipien fehlen, die Voraussetzung dafür sind, wann etwas als Begründung gelten kann bzw. ob bei einem Phänomen überhaupt echtes Verstehen stattfindet oder bloß wirres Chaos in „besoffenen“ Köpfen. Was selbst in der Postmoderne immer noch als Weg zur Erkenntnis gedacht war, wird dann zum reinen Irrsinn, der jede Unterscheidungsfähigkeit zerstört. Was folgt, wenn in einer Demokratie die Mehrheit nicht mehr unterscheiden kann zwischen wirklich wichtigen Entscheidungsalternativen und sinnlosem „Gequatsche“? Wie könnte es dann gelingen überhaupt wieder Kriterien zur Unterscheidung zu gewinnen? Das Phänomen Thüringen zu unterschätzen wäre ein Fehler.

Selbst wenn in dem ganzen Aufmerksamkeits-Gekreische der Disruptoren wie Hans-Georg Maßen und Friedrich Merz, der Opportunisten wie Olaf Scholz und Heiko Maas und der Politiker-Darsteller wie Christian Lindner und Mike Mohring eine ganze Reihe von Politikern aufträten, die fähig und willens wären zukunftsfähige Politik zu gestalten, würden sie überhaupt verstanden werden? Würde ihnen überhaupt jemand zuhören? Würden sie überhaupt genügend Aufmerksamkeit erzeugen können, um wahrgenommen zu werden? Würden sie von Parteien auf Wahllisten gesetzt und gewählt werden?

Immerhin gibt es auf einmal eine breite Jugendbewegung, die sich politisiert, Zusammenhänge zu verstehen versucht und ernsthafte Forderungen aufstellt. Sie zu fördern hätte enormes Potenzial. Doch was machen die „Bürgerlichen“? Sie schmähen diese „echten Bürger“, diese Citoyens, versuchen sie lächerlich zu machen und fordern sie zum Schweigen auf. Auch diese zur Schau gestellte politische Unfähigkeit der „Politprofis“ lässt uns täglich verzweifelt mit dem Kopf schütteln: „Steigt doch bitte ab!“ Wäre es nicht die weitaus bessere Idee, diese Bürger ernstzunehmen, sie aktiv zu fördern und mit guten Argumenten für die jeweilige politische Position zu werben? Wir haben in unzähligen Kursen erlebt, welche tiefen Einsichten Menschen gewinnen können, wie sehr sie ihre Persönlichkeit entwickeln können und was das für sie und die Gesellschaft bedeutet. Das setzt voraus, dass man ihnen Erkenntnisangebote auf der Metaebene unterbreitet, die weit über das binär-logische Denken hinausgehen, damit sie losziehen können, um sich selbst zu befähigen. Solche „Polit- und Unternehmerprofis“ wären ein Segen!

Literatur

Baum, Gerhard (2020): Früherer Bundesinnenminister Baum (FDP): „Ein Hauch von Weimar liegt über der Republik“, in: Deutschlandfunk, https://www.deutsch­landfunk.de/frueherer-bundesinnenminister-baum-fdp-ein-hauch-von-weimar.694.de.html?dram:article_id=469641, 2020-02-05, abg. 2020-02-28.

DLF (2020): Regierungskrise in Thüringen – Widerstand in der CDU gegen Ramelow-Wahl, in: Deutschlandfunk, https://www.deutschlandfunk.de/regierungskrise-in-thuering­en-widerstand-in-der-cdu-gegen.1939.de.html?drn:news_id=1103823, 2020-02-22, abg. 2020-02-22.

Münkler, Herfried (2020): Politologe zu Thüringen: „Eine Krise des politischen Personals“, in: Deutschlandfunk, https://www.deutschlandfunk.de/politologe-zu-thueringen-eine-krise-des-politischen.694.de.html?dram:article_id=469785, 2020-02-07, abg. 2020-02-28.