„Die CDU hat gewonnen und muss regieren!“ – Der Zwang zum Chorgesang und die Fakten
MDR: „Die Berliner Landesregierung wurde abgewählt, daran kann es mit dem vorläufigen Endergebnis keinen Zweifel geben.“ (Lehning 2023) Tagesspiegel: „Einfach wieder Rot-Grün-Rot in Berlin?: Nein, diese Wahl war kein Regierungsauftrag!“ (Betschka 2023) DLF: „Eine Koalition auf SPD, Grünen und Linken wäre nach diesem Wahlergebnis ein Ausdruck mangelnder politischer Moral, eine Instinktlosigkeit gegenüber dem Wahlvolk, das ein klares Signal gesetzt hat.“ (Engelbrecht 2023) ZDF heute: „Berliner Wechselstimmung erwischt SPD kalt […] Dieser Berliner Paukenschlag ist unüberhörbar und dazu müssen sich vor allem die Grünen jetzt verhalten. [… W]as bisher undenkbar erschien – [liegt] jetzt in der Berliner Luft: Schwarz-Grün.“ (Schausten 2023) RND: „Die rot-rot-grüne Landesregierung fährt bei der Wiederholungswahl herbe Verluste ein. Die CDU ist die klare Wahlsiegerin und erhebt zu Recht den Anspruch aufs Rote Rathaus. […] Angesichts des erheblichen Abstands der CDU zum Rest des Felds ist […] nicht von der Hand zu weisen, dass sich die Wählerinnen und Wähler tatsächlich einen Wechsel für Berlin wünschen.“ (Quadbeck 2023) So geht das immer weiter.
Jetzt mal zu den Fakten! Wahlergebnisse sind Fakten. Die CDU hat 28,2 % der Stimmen, SPD und Grüne 18,4 % und die Linken 12,2 %. Die SPD hat 3 % verloren, die Grünen 0,5 % und die Linken 1,9 %. Das macht für die Koalition einen Verlust von insgesamt 5,4 %. Die FDP ist aus dem Landtag rausgeflogen. Umgerechnet auf die Sitze bedeutet das für die Koalition 90 von 159 Sitzen, während die CDU 52 Sitze hat, als Koalition mit SPD oder Grünen insgesamt 86.
Wer hier der Verlierer ist, das ist klar: Die FDP. Der Gewinner ist scheinbar die Partei, die am meisten Stimmenzuwächse hat und/oder die stärkste Fraktion stellt. Dieser „Gewinner“ hat dann auch den Anspruch darauf, erstens zu regieren und zweitens den Regierungschef zu stellen. Sind das Fakten? Nein, das sind gerade keine Fakten! All das sind Interpretationen. Man muss „Fakten“ interpretieren, sonst bleiben sie unverständlich und entfalten keine angemessene Wirkung in Entscheidungsprozessen. Problematisch hieran ist also nicht, dass interpretiert wird. Es ist sogar die Aufgabe von guten Journalisten genau dies zu tun und das ist oft eine ausgesprochen schwierige Verstehens-Aufgabe, die viel Hintergrundwissen und Durchhaltevermögen erfordert (in den Irrungen und Wirrungen des hermeneutischen Zirkels). Doch dabei sind zwei Dinge entscheiden: Erstens darf man nichts als Fakten (im umgangssprachlichen Sinne) darstellen, was Interpretationen sind. Zweitens muss man seine Interpretationen hinreichend begründen und nicht einfach behaupten oder durch irgendeine Stimmung erfühlen oder durch eine göttliche Stimme eingeflüstert bekommen. Schauen wir nun auf obige Pressestimmen zeigt sich, dass bei diesen Interpretationen gerade keine „guten Gründe“ vorliegen, sondern haltlose Behauptungen, die kein Journalismus sind, sondern reine Propaganda!
Erstmal zu „dem Wählerwillen“, der immer wieder angeführt wird: „There is no such thing as …“ „der Wählerwillen“! Es gibt nichts als ein kumuliertes Ergebnis der Stimmen. Um das mal auf den Punkt zu bringen: Die bisherige Koalition hat nach dieser Wahl 90 von 159 Stimmen und damit eine richtig satte Mehrheit! Daran gibt es überhaupt nichts zu rütteln. Wenn die Wähler also etwas entschieden haben, dann dass diese Koalition eine große Legitimation hat, noch dazu eine größere als alle anderen Alternativen! Zudem ist diese Mehrheit von 90 Sitzen eine linke Mehrheit, wenn man die SPD in Berlin mit einer Spitzenkandidatin Giffey (noch) als solche versteht. Eine Regierung mit der CDU wäre aber alles andere als eine linke Regierung und damit auch ganz klar gegen die Mehrheitsentscheidung – wenn man schon so etwas ableiten möchte.
Auch die Forderung Schaustens, Engelbrechts & Co. nach einer Koalition aus Berliner CDU und Berliner Grünen ist mir schwer nachvollziehbar. Was sollte dabei produktiveres herauskommen als bei der Ampelkoalition auf Bundesebene, auf der die FDP nach allen Kräften so gut wie jedes politische Vorhaben der Grünen blockiert und statt zukunftsfähige Lösungen umzusetzen auf strukturkonservativen Dogmen beharrt und verspricht, das alles so bleibt wie es immer schon war? Um nur ein Beispiel zu machen: Allein die Idee Autobahnen schneller auszubauen ist vollkommen aus der Zeit gefallen. Die FDP beruft sich auf einen besonderen ökonomischen Sachverstand, auf Innovation und Flexibilität. Aber glauben sie wirklich, dass es einen weiteren Zuwachs an Individualverkehr ohne Tempolimit geben wird? Und jetzt soll eine deutlich progressivere Grüne als auf Bundesebene mit einer noch strukturkonservativeren CDU die Stadt kooperativ in die Zukunft führen?
Man kann den „Gewinner“ definieren wie man möchte. Daraus folgt: Nichts! All die journalistisch-objektiven Beiträge, die eine Regierung abgewählt „sehen“ sind also vor allem eines: kontrafaktisch! Denn die „Fakten“ geben eine solche Interpretation einfach nicht her. Trotzdem wird das unisono als absolute, unbezweifelbare „Wahrheit“ behauptet. Wie kommt das?
Ich bin ein großer Fan des Deutschlandfunks. Er bildet für mich die Referenz ernsthaften Journalismus‘. Seit Jahrzehnten höre ich jeden Tag mehrere Stunden dessen Beiträge, seit 2006 als ausgewählte Podcasts in doppelter Geschwindigkeit, was das Pensum noch deutlich erhöht hat. Es gibt dort ein ausgeprägtes Interesse an „Wahrheit“, bei gleichzeitiger Meinungsvielfalt. Eine echte Stütze der Demokratie! Trotzdem gibt es dort auch Beiträge wie die von Sebastian Engelbrecht, die scheinbar unwidersprochen bleiben. Um das nochmal im Detail anzusehen:
Engelbrecht (2023) zitiert Hallervorden der „die Wahrheit aussprach“: „Alle drei [Parteien der Regierungskoalition] hätten verloren, beharrten aber darauf, dass sie die Mehrheit hätten. Kämpferisch sprach er aus, was viele an diesem Abend dachten: Da brauchen wir ja gar nicht mehr wählen zu gehen! […] Hallervorden stellte damit eine Frage in den Raum, die in der Demokratie immer wieder gestellt wird: Dürfen sich die Wahlverlierer zusammenschließen und entgegen der sichtbaren Veränderung des Willens des Volkes eine Regierung bilden?“ Engelbrecht ist Journalist des Deutschlandfunks und behauptet gegen alle Fakten, dass Hallervorden „die Wahrheit aussprach“, die darin bestehe, dass die Koalition verloren hätte? Das haben sie aber ganz offensichtlich nicht! Dass hier ein 87-jähriger CDU-Unterstützer auf der CDU-Wahlparty in seiner Euphorie reichlich verqueren Denkschlüssen erliegt, ist wohl menschlich allzu menschlich (der Wunsch ist hier wohl der Vater des Gedankens), aber daraus macht ein DLF-Journalist „die Wahrheit“? Engelbrecht geht sogar noch weiter: Wenn man diesen trumpschen „Alternativfakten“ nicht folge leiste, könne man auch gleich die Demokratie abschaffen, denn man würde beim Wählen ja ohnehin nur betrogen werden. Woher hat Engelbrecht seine „Wahrheit“? Er nimmt die „Stimmung“ des Volkes wahr und „sieht“ die „Veränderung“ des „Volkswillens“ und „ein klares Signal“, das das „Wahlvolk“ „gesetzt“ hat. (ebd.)
Nun, im besten Fall mag Engelbrecht einen Trend erkennen, wo andere keinen sehen, doch die Wahl ist keine Frage von Trends, sondern einer exakten Zählung von Stimmen. Sonst nichts! Hält man sich aber an das faktische Wahlergebnis, dann ist das sogar der „Ausdruck mangelnder politischer Moral, eine Instinktlosigkeit gegenüber dem Wahlvolk.“ (ebd.) Geht’s noch!?
Wie soll der seriöse Journalismus gegen den Niedergang von Wissenschafts- und Wahrheitsansprüchen á la Trump & Co. Stellung beziehen, wenn er sich derselben Methoden bedient? Interpretationen haben Grenzen! Wenn das Vertrauen der Hörer, Leser bzw. Zuschauer auf diese Weise verspielt wird, geht die Grundlage des liberalen Rechtsstaats verloren. Das darf nicht sein! Denn mit einer solchen Disruption geht alles verloren, worauf unsere Gesellschaft fußt.
Wie kommt das? Wieso gibt es bei solch eindeutigen Fakten einen Chor, der unisono und unbeirrbar etwas behauptet, dass es nicht gibt? Wieso gibt es gar keine Zweifler, Abweichler, Herätiker, keinerlei Mehrstimmigkeit, niemanden der sich traut eine schräge Punkversion zu liefern? Das ist selbstverständlich weder eine „Verschwörung dunkler Mächte“, noch das Hirngespinst einer „Lügen-“ oder „Staatspresse“. Auch mangelnde Kompetenz scheidet als Ursache aus. Dahinter ist keine Absicht zu erkennen, sondern die feste Überzeugung, sich redlich an „die Fakten“ zu halten.
Selbstverständlich gibt es politische Intrigen, interessegeleitete Diffarmierungskampagnen etc., die man „Verschwörungen“ nennen könnte. Doch dabei fehlt die Erklärung, warum sich auch diejenigen daran beteiligen, die ganz andere Interessen haben und sich als professionelle Journalisten einem Ethos jenseits solcher Interessen verpflichtet fühlen. Zudem ist Propaganda der zielführendere Begriff. Propaganda ist aber im Grundsatz kein Werkzeug „dunkler Mächte“, sondern gehört zum normalen politischen Geschäft. Die Idee von reiner Wahrhaftigkeit und vollkommener Transparenz ist ein unglaublich naiver Gedanke, der zum Chaos führt, nicht aber zu politisch tragbaren Ergebnissen. Problematisch wird Propaganda aber dann, wenn sie so manipulativ wirkt, dass der Grundsatz der demokratischen Idee verloren geht, wie dies in Russland, Ungarn, Italien, der Türkei etc. zu beobachten ist. Das aber gilt für die deutsche Medienlandschaft gerade nicht. Die meisten Journalisten unterwerfen sich nicht dem Diktat anderer. Das ist an unzähligen Beispielen sehr gut nachzuweisen. Es muss also einen anderen Grund für diese freiwillige Beteiligung an solchen „alternativen Fakten“ geben, einen Grund der sich der (Selbst-)Reflexion entzieht. Nochmal: Hier geht es um sehr kluge Köpfe, deren Geschäft gerade diese kritische Reflexion ist. Irgendetwas wirkt so stark auf sie, dass es so gut wie unmöglich scheint aus dem kollektiven (Fehl-)Denken ausbrechen zu können. Was ist das? Und wie könnte dagegen etwas getan werden?
Dieser Hang zu kontrafaktischen Kollektivüberzeugungen richtet erheblichen Schaden an, führt er doch zu folgenreichen Fehlentscheidungen. Und wenn das bei „Profis“ der Fall ist, wie wirkt sich das dann auf die Entscheidungsprozesse in Organisationen aus, bei denen diese kritische (Selbst-)Reflexion nicht zum Kerngeschäft gehört und der Konformitätsdruck ganz andere Kräfte entfaltet?
Literatur
Betschka, J. (2023): Einfach wieder Rot-Grün-Rot in Berlin?: Nein, diese Wahl war kein Regierungsauftrag!, in: Tagesspiegel, https://www.tagesspiegel.de/berlin/einfach-wieder-rot-grun-rot-in-berlin-nein-diese-wahl-war-kein-regierungsauftrag-9343445.html, 2023-02-13, abg. 2023-02-18.
Engelbrecht, S. (2023): Kommentar zur Regierungsbildung nach der Berlin-Wahl, in: Deutschlandfunk, https://www.deutschlandfunk.de/kommentar-zur-regierungsbildung-nach-der-berlin-wahl-dlf-96d2d43c-100.html, 2023-02-18, abg. 2023-02-18.
Lehning, T. (2023): Berlin-Wahl: Gefragt ist nun Demut, in: MDR, https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/politik/berlin-wahl-rot-gruen-rpt-demut-gefragt-100.html, 2023-02-13, abg. 2023-02-18.
Quadbeck, E. (2023): CDU klarer Gewinner – Kommentar zur Wahl in Berlin: wieder Dramaqueen der Republik, in: Redaktionsnetzwerk Deutschland, https://www.rnd.de/politik/kommentar-zur-wahl-in-berlin-wieder-drama-queen-der-republik-XMNVRI5RVBFEPFTYKV5MDVDCHM.html, 2023-02-12, abg. 2023-02-18.
Schausten, B. (2023): Schwarz-Grün liegt in der Berliner Luft, in: ZDF heute, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/kommentar-schausten-berlin-wahl-100.html?slide=Ergebnis-BERL2023, 2023-02-12, abg. 2023-02-18.